Seit dem Biedermeier waren Naturmotive beliebte Dekore für Kunstgewerbe jeglicher Art: Kunstschreiner schnitzten üppige Blumengirlanden auf die verschiedenen Möbel und Gegenstände der Inneneinrichtung, Goldschmiede fertigte filigrane Meisterwerke, farbenprächtige Blumenmuster zierten Kleiderstoffe, Fußbodenteppiche sowie Stickereien und last but not least schmückten Porzellanmaler ihre Prunkvasen mit Blumensträußen, deren Naturähnlichkeit sie mit täuschend echt gemalten Tautropfen und Insekten noch zu steigern suchten.
Über den Umweg der Porzellanmalerei gelangten die Blumenmotive auch in die Glasdekoration. Ohnehin galt das als „weißes Gold“ bezeichnete Porzellan bei der Glasdekoration des 19. Jahrhunderts als das Maß aller Dinge. Zum einen weil das weiß gefärbte Opalinglas beim Publikum als billige Version des Porzellan fungierte. In Frankreich etwa wurden noch lange die verschiedensten Gegenstände - Tassen, Becher, Flakons, Fußschalen, Zuckerkästen, Tafelaufsätze und Körbchen, Lampenfüße und Lampenschirme - aus Opalinglas gefertigt und anschließend mit Blümchen sowie Ornamenten im „style troubadour“ oder Rokoko kalt bemalt und mit Blattgold garniert.
Zum andern schätzte man das klare Kristallglas, das im Biedermeier erstmals mit duftigem Transparentemail bemalt werden konnte. Diese Glasbecher aus den Werkstätten zweier ursprünglicher Porzellanmaler - Samuel Mohn in Dresden und Anton Kothgasser in Wien – werden bis heute im Kunsthandel unglaublich hoch bewertet.
Das 19. Jahrhundert war gleichzeitig beherrscht von enormen politischen und soziokulturellen Veränderungen, hervorgerufen durch die Gründung der Nationalstaaten und die beginnende Industrialisierung.
Auf der Suche nach Identifikationsvorlagen orientierte sich das aufstrebende Bürgertum natürlich an den Herrscherhäusern und den vermeintlichen „guten alten“ Glanzzeiten. Optisch schwelgte man in mittelalterlicher Ritterromantik und Burgenidyllen, feierte mittels Schnörkelorgien die Renaissance oder überlud das Mobiliar mit schweren barocken Formen.
Außerdem sollten die immer kleinteiligeren und detaillierten Motive die handwerkliche Kunstfertigkeit und den Vorsprung des Künstlers vor der Maschine bezeugen - gerade weil dieser aufgrund des technischen Fortschritts immer geringer zu werden drohte.
Diese Entwicklung missfiel nicht wenigen Zeitgenossen. Kritiker wetterten gegen die Üppigkeit zahlloser Arrangements und umfangreicher Bildprogramme. Auf den großen englischen Buffets etwa „spielten sich ganze Dramen ab“.
Auch die künstlich erzeugte Naturähnlichkeit wurde als so weitgehend empfunden, dass man spottete, „der Fuß zögert, in das Blumenmeer hineinzutreten“ und niemand mag sich auf die vielen Blumen setzen, „aus Furcht sie zu zerquetschen“.
Reformer forderten daher bereits im 19. Jahrhundert eine Stilisierung der Naturformen und ikonographische Angemessenheit des Schmuckes. Ihre idealen Blumenmuster waren symmetrisch und regelmäßig und ein 1856 von dem englischen Architekten Owen Jones herausgegebenes Grundlagenwerk der Dekoration enthielt eine Sammlung von stilisierten Ornamenten aus allen Epochen und Kulturkreisen.
Nach den erfolgreichen Kunstgläsern kam Karl Köpping 1898 mit einer kleinen Anzahl von Gebrauchsgläsern auf den Markt und wurde dafür von der Kritik begeistert gefeiert: „Köpping hat den Schritt vom Objet d'art zum Gewerbe gewagt und verdient schon allein dafür Anerkennung.“
Die große Zerbrechlichkeit und die für Gebrauchszwecke unangenehme, weil zu aufdringliche und teilweise fleckige Farbigkeit waren aber auch genau die Argumente der Kritiker, allen voran natürlich wieder Gustav Pazaurek.
Ungeteilte Zustimmung fanden die klaren Formen, die den vegetabilen Kunstgläsern sehr nahe stehen und an das „moderne und unübertreffliche Trinkglasmodell“ von William Morris erinnerten, welches allerdings eine Form des 17. und 18. Jahrhunderts wiederaufgriff.
Solche und andere vereinzelte künstlerische Vorstöße wirkten insgesamt positiv auf die Entwicklung der Glasindustrie, die sich nun bemühte, die neuen technischen Verfahren mit alten zu kombinieren und mit neuen Formentwürfen und Dekoren auf den Markt kam.
Einerseits gründet der florale Jugendstil im Naturalismus des 19. Jahrhunderts, doch auch der Eklektizismus des Historismus wirkte mit seinen ganz unterschiedlichen Stilausprägungen nahezu unverändert über die Jahrhundertwende weiter.
Um 1900 suchte man nicht mehr nur Anregungen aus zeitlich und räumlich weit entfernt liegenden Stilrichtungen, sondern verlagerte das künstlerische Interesse einfach nur noch weiter nach Osten, nach China und Japan.
Gefördert wurde dieses Interesse des Westens durch die politische Öffnung des Fernen Ostens und einen beginnenden weltweiten Handel. In Museen und auf den Weltausstellungen hatten die europäischen Künstler und Kunstinteressierten erstmals direkten Zugang zum fernöstlichen Kunsthandwerk. Die Eindrücke wurden anschließend in den Kunstzeitschriften einer breiten Öffentlichkeit mitgeteilt und kulminieren im sogenannten „Japonismus“.
„Jugend“ - der Name der Zeitschrift war, wie der Untertitel „Illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben“ nahelegt, nicht Zufall sondern Programm. Zusammen mit dem Umbruch der allein schon durch das Datum für das neue Jahrhundert erhofft wurde, lag die Idealisierung des Lebens und speziell der Jugend nahe. In der Jugend sah und verehrte man den erhofften Beginn einer neuen Zeit, eines neuen Lebensgefühls.
Doch wie jeder schlagkräftig Epochenbegriff fokussiert die Bezeichnung „Jugendstil“ nur einen stilistischen Aspekt unter vielen anderen zeitgleichen künstlerischen Äußerungen. Dabei ist nicht klar, ob solch eine Epochenbezeichnung eine allgemeine zeitliche Orientierung sein soll oder bereits differenziert auf den Inhalt beziehungsweise den Stil eingeht.
Die Neuerungen wurden damals in zahllosen Kunstzeitschriften heiß debattiert und nicht ohne Grund nennt man im deutschsprachigen Bereich diese Epoche bis heute nach einer der führenden Kunstzeitschriften, der seit 1896 in München erschienen „Jugend“.
Allerdings hatte die Namensgebung tatsächlich historisch eine andere Ursache und war zu Beginn abwertend gemeint. Sie wollte auf den Liniendrang der vorwiegend in der „Jugend“ publizierenden Graphiker hinweisen. Denn dieses Blatt war geradezu beherrscht von den sogenannten „Linienstilisten“, deren Stil George Grosz folgendermaßen beschreibt: „Lilienstengel und Japan irgendwie gemischt. Alle Linien schwangen, bogen, krümmten und verrenkten sich, liefen wieder voneinander fort und krümmten sich abermals halbrund, bis das Ornament zustande gebracht war.“
Traditionell und landläufig werden mit dem Begriff „Jugendstil“ Motive aus Fauna und besonders Flora verbunden. Kennzeichnend seien ganz allgemein vor allem schwingende Wellenbewegungen, organische Formen, sowie Blumen- und Blattornamente.
Diese oberflächliche Einschätzung wird auch für die Glaskunst kolportiert, die im Jugendstil einen enormen Aufschwung erlebte. Besonders die Gläser von Emile Gallé aus Nancy, die deutlich von der Botanik-Begeisterung des Künstlers zeugen, haben diesem Eindruck nachdrücklich Vorschub geleistet.
Und tatsächlich verfallen beinahe alle Glasfabriken um 1900 dieser Manie für alles natürlich Gewachsene und dekorieren unzählig viele Gegenständen mit vegetabilen Ornamenten und pflanzlichen Motive – oder geben ihren Glasobjekten solche Formen.
In unserem Zusammenhang aber stellt sich die Frage, ob man den Begriff „Jugendstilglas“ zeitlich oder stilistisch auffasst; also ob damit ganz generell die Kunst um 1900 bezeichnet wird oder ob es sich um den Teilbereich der „Spaghetti-Orgie der Linien“ handelt, wie ein Zeitgenosse fröhlich despektierlich die künstlerischen Bemühungen abgekanzelt hat – womit in unserem Fall vor allem das Zierglas gemeint wäre.
Unter kunstvoll gestaltetem Jugendstilglas darf man nicht nur die weichen, vegetabilen Formen opulenter Ziergläser subsumieren, sondern es gilt auch den großen, praxisorientierten Gebrauchsglasbereich zu betrachten. Da sieht die Einschätzung nämlich beinahe umgekehrt aus.
Das Geschmacksbild im Gebrauchsglas nach 1900 wird beherrscht von klaren Formen und einzelnen Entwerferpersönlichkeiten. Hier versteht man unter künstlerisch wertvollem Glas das vorwiegend klare Kristallglas und die dekorlosen, strengen Entwürfe eines Peter Behrens und Richard Riemerschmid, oder die reich geschliffenen Überfangrömer von Otto Prutscher.
Gewiss, es gab auch bei den funktional gebundenen Gebrauchsgläsern florale Motive und man findet auch auf Trinkgläsern Blüten in gemalter, geschliffener und geätzter Weise. Formale Üppigkeit und florale Buntheit sind durchaus bekannt - und die Objekte werden teuer gehandelt -, richtig goutiert aber werden sie nicht.
Trotz seiner Zweckgebundenheit gibt es beim historischen Trinkglas eine unglaubliche Formenvielfalt und gestalterische Schönheit. Die Begeisterung und das Wissen um ihre ursprüngliche Funktion, Bedeutung oder Entstehung, dafür steht diese Seite.
© Dr. Warthorst, Konstanz. Alle Rechte vorbehalten.
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