In einem Bereich, in dem wirtschaftliche Faktoren und wechselnde Moden eine wesentliche Rolle spielen und in dem Kopieren oder Nachahmen eine geübte und gängige Praxis war, kann man folglich mit der traditionellen kunsthistorischen Stilkritik mehr anrichten als tatsächlich sinnvoll ausrichten.
Zuverlässige Aussagen sind nur mittels originaler Produktionsunterlagen oder anderer historischer Dokumente möglich. Über das sorgfältige Vergleichen der Gläser untereinander kann man eventuell Hinweise auf den Hersteller oder Entstehungszeitraum finden, mehr aber auch nicht.
Zuweilen ist es aber auch noch komplizierter: Selbst wenn man ein Glas in einer der wenigen noch existenten historischen Produktionsunterlagen findet, schließt das nicht aus, dass eine andere Fabrik nicht dasselbe Produkt herzustellen versuchte und ebenfalls als Hersteller in Frage kommt; über eventuelle Zuliefer- oder Kooperationsverhältnisse zwischen Fabriken und Raffinerien ganz zu schweigen.
Neben den obligatorischen Angaben zu Datierung und Hersteller gehen die Einzelartikel in Bestands- und Auktionskatalogen von Jugendstilglas immer auffallend ausführlich auf Material und Technik ein. Bewusst oder unbewusst hat sich so im Laufe der Jahre der Eindruck verfestigt, das dies auch die beiden wichtigsten Neuerungen der Kunst um 1900 seien. Dem ist natürlich nicht so!
Als Hauptursache für die Schwierigkeiten beim Zuordnen des Gebrauchsglases vor 1950 könnte man den hohen handwerklichen Standard vieler Hütten, eine verhältnismäßig einheitliche Produktionstechnik und den internationalen Absatzmarkt nennen.
Aber auch ein, durch die regelmäßig stattfindenden Weltausstellungen geförderter, vereinheitlichter Publikumsgeschmack trug seinen Teil für weit verbreitete Vorlieben und rasch wechselnde Moden im Kunstgewerbe bei.
Und da der Glasmarkt in bestimmten Landstrichen ein wichtiger Wirtschaftszweig war, herrschten beinharte Konkurrenz und intensiver Wettbewerb.
Historische Dokumente belegen, dass Informationen über besondere handwerkliche oder technische Verfahren nicht immer legal abgeschöpft oder auf Messen die erfolgreichen Produkte der Konkurrenz ganz offen kopiert und rasch ins eigene Verkaufsprogramm übernommen wurden.
Trotz diverser, manchmal allerdings nur minimaler, Veränderungen bei den Nachahmerprodukten gab es nicht selten Plagiatsvorwürfe; ein befriedigender und landesweiter Gebrauchs- und Geschmacksmusterschutz war erst im Entstehen.
Übrigens waren auch schon die Zeitgenossen vom zuweilen arg ähnlichen Angebot überfordert, wie die aufmerksame Lektüre historischer Kunstzeitschriften und die zahlreichen darin zu findenden „Berichtigungen“ belegen.
Die Palette der Gebrauchsglasindustrie reichte vom Luxusservice in echtem Bleikristall, über das „bessere Mittelgut in sogenanntem Halb- oder Spezialkristall“ bis hin zur „Gangware von möglichst schmucker Ausgestaltung in Pressglas“.
Auch die Glasraffinerien unterschieden zwischen aufwendigen, kostspieligen und traditionellen Veredelungsverfahren, wie etwa Schliff, Schnitt und Malerei, zwischen der etwas preiswerteren Ätz- oder Guillochiertechniken und guter Pressglasware.
Und nicht immer war das teuerste Kristallglas auch gleichzeitig das künstlerisch wertvollste.
„Am schlichtesten, doch durchaus nicht am wenig vornehmsten wirken die völlig undekorierten Gläser, denen aber ihr ruhiger, leichter Formenaufbau zu gutem Ansehen verhelfen kann.“
Im Gebrauchsglas wurden andere Ziele gesteckt: Es galt „nicht neue Farben, sondern neue Formen zu finden“, außerdem wurde eine „Adäquatheit“ des Dekors gefordert, das auf die Form des Glases eingehen, ja „sich in großer Anspruchslosigkeit ihm unterordnen“ sollte, damit die Transparenz und Dünnwandigkeit des Glases zur Wirkung kommen kann.
Derartige Bemühungen um modernes Gebrauchsglas wurden auch von Pazaurek wärmstens begrüßt, „denn gerade hier tut eine künstlerische Veredlung noch mehr not, als bei Blumenvasen, von denen wir in der Regel schon mehr besitzen, als wir bedürfen“.
1905 hielt ein Kritiker fest: „Wir leben in einer Zeit hochentwickelten Gesellschaftslebens und in allen Volksschichten sich hebenden Volkswohlstandes, die auf Schmuck und Zierde der Häuslichkeit großen Wert legt. Ein durch Sehen und Vergleichen geläuterter Geschmack legt Wert auf reine, unverfälschte Materialschönheit und stellt an deren technische, zweckgeborene Verarbeitung künstlerische Ansprüche. Eine neue, zeitgemäße, ästhetisch und vernünftig befriedigende Formenpracht ist gefunden.“
Infolge von Darwins revolutionärer Abstammungslehre erfuhr die Naturwissenschaft, insbesondere die Biologie, im Laufe des 19. Jahrhunderts große öffentliche Aufmerksamkeit und auch der engagierte Laie begann sich für die einfachen Lebewesen sowie die Morphologie zu interessieren.
Mit zwei illustrierten Büchern lieferte der deutsche Zoologe, Mediziner und Naturphilosoph Ernst Haeckel genügend Anschauungsmaterial über die bisher unvorstellbare Welt der Einzeller, Fossilien und Unterwasserflora. Ermöglicht wurde dieser Blick in den Mikrokosmos aufgrund entscheidender Verbesserungen in der Mikroskoptechnik. Seine Farbtafeln mit abstrakt wirkenden Darstellungen von Urpflanzen, Algen, Tangen hatten direkte Vorlagenfunktion für eine Reihe prominenter Künstler. „Alles spiralt, radialt, wirbelt, strahl aus, dreht sich im Kern“, begeisterte sich etwa Herman Obrist.
Großen Einfluss übten auch die Forschungen über Strahlentierchen und die Pflanzenfotografien von Karl Blossfeldt aus. Die französischen Künstlerkollegen waren genau so vorgegangen. Während seines Studiums etwa hatte Emile Gallé Vorlesungen in Kunstgeschichte, Botanik, Zoologie und Philosophie besucht.
Neue Motive lieferten nun nicht mehr nur besonders ausgewählte Blüten und ansprechende Arrangements, sondern auch die unscheinbarsten Sprossen, Ranken, Wurzeln, Unterwasserpflanzen und Fossilien, in ihrer Gesamterscheinung oder in betont pittoresken Details. Besonders faszinierten auch die verschiedenen Wuchsstadien und Bewegungsformen der Pflanzen und Kleinlebewesen wie Quallen, Nesseltierchen, Algen, Muscheln oder Korallen. Die Insektenkunde wiederum bewirkte ein gesteigertes Interesse am irisierenden Farbenspiel, wie bei Libellen- und Schmetterlingsflügeln, und am changierenden Kolorit der Chitinhüllen.
Woher ein Glas stammt, in welcher Technik es hergestellt worden ist und wann man es datieren kann. Blickt man in Museums-, Sammlung-, Ausstellungs- oder Auktionskataloge, dann sind das immer noch die zentralen Fragen. Bei Glas aus der Zeit nach der Jahrhundertwende kommt die Frage nach dem Entwerfer – später Designer genannt – noch hinzu.
Gerade aber beim Glas des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist es besonders schwierig, hierauf seriöse Antworten zu finden.
Zum einem liegt es am Material: An seiner unüberschaubaren Menge und seiner zum Verwechseln prädestinierten Ähnlichkeit.
Zum anderen an der oberflächlichen Betrachtung und falschen Methode bei der Bearbeitung von Glas um 1900. Ungenaues Sehen, unangebrachte Stilkritik und diffuse Geschichtsdaten ersetzen leider viel zu oft den exakten Formvergleich und spezielle Sachkenntnis.
Bis 1900 galt die Präferenz dem Dekor. Die Form, auf dem es erschien war zweitrangig und austauschbar. Erst um 1900 wuchs das Interesse für die Form und es begann der Siegeszug der Formgestalter, resp. Entwerfer, beziehungsweise ihnen nachfolgend der Designer.
Doch der Jugendstil hat den historistischen Ornamentgedanken noch weiter vorangetrieben, in dem er die Form des zu dekorierenden Gegenstandes verändert und dem Dekor angepasst hat. Am Endpunkt dieser Entwicklung ist also schlussendlich die Form selbst zum Dekor geworden. Gerade im Bereich der funktionslosen Zierobjekte aus Keramik, Porzellan und Glas trat dieses Phänomen besonders deutlich zutage, wobei sich die im Herstellungsprozeß weichen und fließenden Materialien für Naturformen und Applikationen jeder Art zudem besonders gut eigneten.
© Dr. Warthorst, Konstanz. Alle Rechte vorbehalten.
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